Aletschhorn (4195m) – auf langen Wegen zu einem der kältesten Berge Europas

Es ist stockdunkel und ich steige von Stein zu Stein im Lichtkegel der Stirnlampe. Es schneit und das Licht der Lampe wird durch die Schneeflocken unregelmäßig gestört und reflektiert. Seit einer halben Stunde sind wir nun auf der Mittelmoräne des Oberaletschgletschers unterwegs. Wir waren um 3:15 Uhr morgens nach einem Schnellfrühstück auf der Hütte gestartet und –  gesichert mit Klettergurt und Klettersteigset – von der Oberaletschhütte über die langen senkrechten Eisenleitern etwa 250 Meter hinunter auf den Gletscher abgestiegen. Der Wetterbericht hatte am Vorabend nichts von Schneefall mitzuteilen, so dass der Hüttenwirt überzeugt war, wir würden aufgrund der reflektierenden Markierungsstangen den Weg gut finden.

Die erste Markierungsstange war auch noch zu sehen. Danach zeigten Steinmänner in unregelmäßigen Abständen den Weg. Bis… ja, bis dann auch keine weiteren Steinmänner mehr zu finden waren. Kurzes Herumsuchen brachte keine Erkenntnis. Also im Schneetreiben zunächst einige Schritte weiter, doch innerhalb weniger Minuten war in dem White-Out zwischen den verstreut herumliegenden Felsen auf dem aperen Gletscher nichts mehr klar. Haben vielleicht die beiden nachlaufenden Gruppen noch irgendein Orientierungszeichen gefunden? Der Blick zurück ist enttäuschend. Ich sehe nur schemenhaft das Auf und Ab von felsigen Hügeln auf dem Gletscher. Nichts zu sehen von den anderen Gruppen.

Plötzlich sehe ich rechts eine Reflexion im Schneefall. Endlich – denke ich. Der Weg scheint also weiter rechts zu verlaufen. Das würde erklären, warum die Orientierung hier so richtig schwer ist – selbst im Vergleich zu ähnlichen Situationen am Matterhorn oder an der Douforspitze. Also nach rechts, doch schon sind wieder nur Schneeflocken zu sehen. Wir gehen weiter. Hier muss doch etwas sein. Nach 500 Metern eine kurze Reflexion weiter rechts. Na also, ich folge dem Zeichen. Es geht den Steinhügel hinunter auf das Eis und da sehe ich schon das Licht. Aber – welche Überraschung, da tauchen plötzlich zwei Lichtpunkte aus dem Nebel auf. Ich erkenne zwei stark vermummte Gestalten. Zwei Bergsteiger. Was machen die hier um 3:30 Uhr im Schneefall vor uns auf dem Gletscher? Kann es sein, dass jemand vor uns die Hütte verlassen hat? – Nein. Kann es sein, dass jemand biwakiert hat? – Auch das wüssten wir. Plötzlich tauchen noch weitere Stirnlampen aus dem Schneetreiben auf und mir wird plötzlich klar: Die Reflexion rechts kam nicht von den Orientierungsstangen, sondern von den uns seitlich hinterherlaufenden Bergsteigern. Und auch diese hatten im Schneetreiben keine Orientierungszeichen mehr gesehen.

Ronny und ich grüßen kurz und gehen wieder in die Richtung zurück, aus der  wir kamen. Allerdings nütze ich nun meine Kompassuhr und gehe ohne sichtbare Steinmänner zwischen den größer werdenden schemenhaften Spalten und Steingebirgen auf dem Oberaletschgletscher weiter unter 20 Grad Richtung Nord. Also entlang der Marschzahl, die uns zumindest in Richtung Einstieg des Südwestgrates zum Aletschhorn bringen sollte. Die italienische Mannschaft hat sich nun an uns drangehängt und als wir erneut suchen, gehen sie geradeaus weiter. Mir gefällt das Ganze nicht. Auf einer Höhe von 2600m sollten wir nach der Beschreibung nach rechts auf die Seitenmoräne zuhalten. Bei dem Schneetreiben sehen wir zwar tiefe Schluchten und hohe Rippen, aber keine Seitenmoräne. Wir suchen getrennt in allen Richtungen. Nichts zu finden. Kein Steinmann, keine reflektierende Markierungsstange. Ich laufe nochmals zu den fünf Schweizer Bergsteigern zurück, die als dritte und letzte Gruppe von der Hütte aufgebrochen sind und frage, ob sie Steinmänner gesehen haben. Die Antwort ist klar. Steinmänner haben Sie nicht gesehen, aber auch nicht darauf geachtet, denn Sie suchen die angekündigten Markierungsstangen. Diese haben sie seit einer halben Stunde auch nicht mehr gesehen und sind entsprechend frustriert.

Also drehe ich um und sehe wieder in Richtung Norden nach Ronny. Der hat im Schneetreiben einen großen Steinmann gefunden. Wunderbar. Wir starten von dort weiter Richtung Norden und sind schon nach weiteren fünf Minuten hinter den Italienern, die ihrerseits nach dem Einstieg am Moränenhang suchen. Plötzlich sehe ich rechts eine reflektierendes Zeichen. Ich gehe darauf zu und – siehe da – eine Markierungsstange auf dem Gletscher. Wir sind uns nun ganz sicher, dass wir richtig sind und gehen in östlicher Richtung weiter.

Wir müssen in diesem Schneetreiben endlich den Ausstieg aus dem Oberaletschgletscher über die Seitenmoräne zu finden. Ich suche nach rechts in östlicher Richtung am nun vor uns liegenden steilen Moränenhang. Immerhin sind wir irgendwo am Rand des Gletschers. Hier sollte auch der Anfang des steilen Pfades sein, der über die Moräne in die erste Felswand am Grat führt. Aber – wieder gefehlt. Nach rechts in östlicher Richtung kommt die Pfadspur nicht in Sicht. Auch keine weitere Markierung. So ein Pech.

Als wir in westlicher Richtung an der Seitenmoräne zurückklettern, wird schnell klar, dass die anderen beiden Gruppen den Pfad in westlicher Richtung gefunden haben müssen. Genauso ist es auch. Nach zehn Minuten sehen wir die Schweizer schon hoch droben am Moränenhang. Nur etwa fünf Minuten vor uns klettern die Italiener den Steilhang hinauf, der mittlerweile eher wie ein Skihang in der Nacht aussieht, als eine längere Kletterpassage im ersten Schwierigkeitsgrad.

Sei es drum. Nach einstündiger Suche im dunklen Labyrinth haben wir den Ausstieg aus dem Gletscherbecken gefunden. Schon taucht die nächste Stange mit Reflektor auf,  ein Fahrradspeichen-Reflektor, den die einheimischen Bergführer hier zur Markierung angebracht haben. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Unsere gute körperliche Kondition und Stärke gibt uns Sicherheit und Selbstvertrauen. Die italienische Gruppe mit ihren schweren Rucksäcken scheint noch nicht ausreichend akklimatisiert zu sein und ist entsprechend langsam. Schon nach weiteren zehn Minuten Aufstieg haben wir sie eingeholt. Sie pausieren.

Wir klettern nun weiter nach oben und über steile Bänder nach links und sehen im Schneetreiben die Schweizer Gruppe auf der Suche nach dem Weiterweg. Es ist schnell ersichtlich, dass sie den riesigen Geröllhang weiter hinaufgeklettert und nicht, wie im Führer beschrieben, auf einer Höhe von 2700 Metern nach links in den steilen Felsaufschwung hineingequert sind. Er führt auf den steilen Felsrücken. Wie vermutet, finden wir am Anfang wieder Steinmänner und ich bin nun sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Hier sind unsere guten Kletterfähigkeiten Gold wert. Schon nach kurzer Zeit stehen wir, zwar noch im Schneetreiben, aber mit besser werdender Sicht, auf dem Felsrücken, der die nächsten 500 Höhenmeter unseres Weges darstellt. Über die etwa 150 Meter hohe Steilwand hinunter sehen wir, wie die Schweizer umdrehen, langsam absteigen und dann hinter uns heraufklettern. Auch die Italiener haben mittlerweile von der Moräne kommend zu den Schweizern aufgeschlossen.

Wir steigen und klettern Felsstufe um Felsstufe nach oben. Nach einer Steilstufe sehe ich, wie die beiden anderen Gruppen etwa 200 Meter unter uns zusammenkommen und sich beratschlagen.

Die gute Akklimatisation und Kondition sind jetzt unser wichtigstes Kapital. Nach einiger Zeit ist klar, dass niemand mehr folgt und wir nun allein am Berg sind. Es ist eisig kalt im oberen Bereich der Felsrippe. Gegen 8 Uhr erreichen wir den höchsten Punkt der Rippe, wo diese im darüber liegenden steilen Gletscher verschwindet. An der rechten Wand ist unter dem Gipfel eine eisige Mulde im Felsboden, die wie eine Adlerhorst über den nach unten wegbrechenden Wänden thront. Hier, auf 3500 Meter Höhe, machen wir erstmals Rast  und legen Steigeisen und Seil an. Nun wird es Zeit, die gesamte Kletterausrüstung an den Gurt zu hängen, denn beim Blick nach vorn ist klar, dass der Übergang auf den oberen Gletscher nicht einfach ist.

 

Mit dem Eisgerät bewaffnet, mache ich mich auf, die etwa 30 Meter hohe Eiswand zu bezwingen, die den Übergang auf den oberen Gletscher bildet. Unter mir geht es etwa 60 Grad steil über Eisbrüche in die dunkle Tiefe hinunter. Ich setze also eine Eisschraube als Zwischensicherung ins Eis. Dies verhindert zumindest den Seilschaftsabsturz. Die Ersteigung des Wändchens gelingt dann doch ohne weitere Probleme und wir gelangen auf den moderat geneigten oberen Gletscher. Über diesen geht es in zwanzig Minuten die etwa 200 Höhenmeter hinauf, bis eine Firnflanke nach links hinauf den Weg auf den oberen Grat ermöglicht. Dort legen wir die Steigeisen wieder ab, denn wir haben nun für etwa eine Viertelstunde Blockkletterei im ersten bis zweiten Schwierigkeitsgrad vor uns. Dann folgt sehr ausgesetzt ein Firnfeld, das recht steil hinauf zum Gipfelgrat führt. Von hier sind es immer noch 400 Höhenmeter zum Gipfel.

Es ist mittlerweile 10 Uhr und das Schneetreiben hat aufgehört. Durch gefrorene Kaltluft ist ein verschleierter Blick nach unten auf den Oberaletschgletscher möglich. Mein Gott – ist das weit. Wir sind etwa 1500 Höhenmeter über steile und ausgesetzte Grate heraufgeklettert. Nun sind wir weit oben, jedoch stehen uns die eigentlichen Schwierigkeiten noch bevor.

Zunächst etwa 200 Höhenmeter im immer steiler werdenden Firn hinauf. Am Ende ist die Steilheit richtig tückisch. Das heißt: Sehr exakt und konzentriert mit den Steigeisen gehen und den Pickelschaft tief in den verharschten Schnee hämmern. Das hilft –  zumindest der Psyche. Am Ende und im steilsten Teil, stehen Sicherungsstangen. Wir haben nun gute Sicherungspunkte, die im Abstand von 20 Metern hier in dem unangenehm verschneiten Steilgrat vorhanden sind. Wir laufen am gleitenden Seil und nützen die Stangen für Zwischensicherungen. Das Gelände ist atemberaubend und bricht beim Blick nach unten steil ab. Einzelne Kletterstellen im zweiten Schwierigkeitsgrad und Firn und Eis bis 50 Grad können die Herausforderung am steilen Gipfelaufbau nicht ganz wiedergeben: Aus der hier üblichen Kletterei ist mit dem Neuschnee der letzten Tage vielmehr eine Eiswand geworden, die mit einigen Felsköpfen durchsetzt ist.

Endlich, nach einer weiteren Stunde Kletterei, kommen wir um 11.30 Uhr am Gipfel an. Die Sonne scheint und am einsamen Gipfel ist es für eine halbe Stunde richtig heimelig. Zeit für Fotos, Essen und erstmalig kein Moment des Voran- und Hinaufstrebens. Das Gipfelkreuz ist sichtbar von Blitzeinschlägen verformt. Die Metallstreben des Kreuzes sehen aus wie nach einer schlechten Schweiß-Arbeit. An einigen Stellen ist Schlacke zu sehen, als wäre das Metall gerade erst geschmolzen. Im Wandbuch sehen wir, dass die letzten Bergsteiger vor zwei Tagen hier waren. Und das im August dieses verregneten Sommers. So wird das Aletschhorn in 2014 nicht viele Begehungen bekommen. Wir fühlen uns geradezu einsam und genießen den atemberaubenden Blick.

Vorsichtig schaue ich über die Wechte nach Osten. Ich hoffe auf einen gut vorgespurten und leichten Abstieg in Richtung Aletschjoch und von dort hinunter zum Mittelaletschbiwak. Wir wollen  nach Bettmeralp absteigen, da Ronny am nächsten Tag wieder arbeiten muss.

Also starten wir vom Gipfel entlang der verwehten Spur über den Grat. Ganz schön ausgesetzt hier unterm Gipfel. Wir klettern knapp unter dem Gipfelgrat in unangenehmem Gelände hinüber zum Firnsattel. Hier ist der Schnee gut und der Pickel wird bis zum Schaft eingerammt. Ich trete die verwehte Spur neu. Über 300 Meter geht es so voran – Fehler zu machen, wäre hier nicht ratsam. Danach können wir erleichtert auf die Firnkuppe hinuntersteigen und diese überqueren. Anschließend geht es eine bis 40 Grad steile Firnflanke hinunter – der Blick hinunter lässt uns schlucken. Wir sehen etwa 300 Meter die steile Firnflanke hinunter auf ein Firnplateau, das wiederum weitere 1000 Meter die Nordwand weiter hinunter abfällt. „Höchste Konzentration, Männer“ denk ich mir und bin froh, als nach einer Viertelstunde Steilabstieg auch Ronny ganz cool auf dem Firnplateau hinter mir ankommt.

Wir machen eine Viertelstunde Pause und ich befrage mein GPS, damit uns keine Fehler unterlaufen – in diesem Gelände will ich keinesfalls einen Rückweg antreten müssen.

Vor uns liegt nun der Wechtengrat zum Aletschjoch. Das sieht aber grausam aus. Die Spur ist zugeweht und wir sehen lediglich, dass wir am Anfang des Grates 50 Meter oben laufen können,  aber in die südseitige Flanke steigen müssen. Oben ragen die Wechten Richtung Norden über die Hasslerrippe hinaus. Und eines ist in diesem Jahr sicher: Da drüber will keiner laufen. Ich gehe über den schmalen Grat die 50 Meter bis zur Felsspitze, auf der die Hassler-Rippe endet. Eine tolle Tour. Wir sehen im oberen Teil kaum Felsen aus der steilen Firnwand herausragen. Alles zugeschneit. Ich bin beeindruckt von der dunklen Nordwand – dort, auf der andere Gratseite unter uns. Ich ramme den Pickel tief in den Grat ein und mach den ersten Schritt in die Südwand. Hier will ich die Spur treten, die uns die 500 Meter hinüber zum Aletschjoch bringen soll.

Bilder vom Wechtengrat mit guter Spur sind schon beeindruckend genug. Doch heut sieht es kriminell aus. Die Spur ist verweht, es liegt Neuschnee auf der Südwand und mittlerweile ist es warm geworden. Jeder Tritt in den Schnee ist jetzt unangenehm. Unter meinem Schuhen rutscht die Spur bei jedem Tritt erst einmal leicht ab. Unter mir geht es geschätzt 500 Meter über Eisbrüche ins obere Gletscherbecken. Konzentriert setze ich den Pickel noch tiefer in die obere Firnflanke, dort wo der Grat am stabilsten sein dürfte. Dennoch sticht der Pickel manchmal in die Nordwand durch.  Puhhh! Nochmal sauber setzen. Schritt um Schritt geht es hinüber Richtung Aletschjoch. Die Spur hinter mir sieht gut aus. Vor mir allerdings ist es ein hartes Stück Arbeit. Nach einer halben Stunde Spurarbeit am Grat mit höchster Aufmerksamkeit bin ich bedient. Wir nähern uns Richtung Aletschjoch. Ronny zeigt Respekt und beste Nerven.

Schließlich kommen wir am Aletschjoch an und packen die ersten Steilstellen in der oberen Firnflanke.  Erst 600 Meter tiefer kommen wir über das am Aletschhorn übliche Stein- und Fels-Gelände mühsam am Mittelaletschbiwak vorbei. Nun endlich sind die Schwierigkeiten vorüber. Die Sonne scheint und im gesamten Mittelaletschtal ist niemand auszumachen. Stattdessen sehen wir einige große Sommerlawinen unterhalb im Gletscherbecken liegen.

So ganz langsam erlangen wir unsere Lässigkeit zurück. Nur noch hinab über den Gletscherbruch unterhalb des Mittelaletschgletschers und den seltenen, aber zielführenden Steinmännern folgend, hinab in die Weite des Gletscherbeckens. Über die 3 km lange Mittelmoräne geht es hinaus zum großen Aletschgletscher, der quer daherkommt. Die Überquerung des fast  2 km breiten Aletschgletschers – immerhin der größte Gletscher der Alpen -  mit seinen langgezogenen Spalten und Rinnen, gelingt uns jetzt geradezu spielend. Wir finden zielstrebig den Weg hinüber in Richtung Eggishorn.

Von dort leitet uns ein steiler Grashang  hinauf und zurück in die Zivilisation. Von der Heimfahrt in der Nacht trennt uns also nur noch der weglose Gegenanstieg vom Gletscher hoch zum Panoramaweg. Diese 200 Höhenmeter in steilem Wiesengelände machen sich jetzt in den müden Beinen bemerkbar. Folgt noch der lange Weg zurück nach Bettmeralp, der mit seinen zweieinhalb Stunden noch einiges an Durchhaltevermögen verlangt. Die Bettmeralp-Seilbahn fährt zum Glück bis 22 Uhr  und bringt uns wie eine Sänfte hinunter ins Tal.  

 

1.9.2014 - K. Berghold

 

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